Sunday, 15 November 2009

Ein Sturm vom Paradiese her


In seinem Essay "Über den Begriff der Geschichte" schreibt Walter Benjamin:

"Es gibt ein Bild von Klee, das Angelus Novus heißt. Ein Engel ist darauf dargestellt, der aussieht, als wäre er im Begriff, sich von etwas zu entfernen, worauf er starrt. Seine Augen sind aufgerissen, sein Mund steht offen und seine Flügel sind ausgespannt. Der Engel der Geschichte muß so aussehen. Er hat das Antlitz der Vergangenheit zugewendet. Wo eine Kette von Begebenheiten vor uns erscheint, da sieht er eine einzige Katastrophe, die unablässig Trümmer auf Trümmer häuft und sie ihm vor die Füße schleudert. Er möchte wohl verweilen, die Toten wecken und das Zerschlagene zusammenfügen. Aber ein Sturm weht vom Paradiese her, der sich in seinen Flügeln verfangen hat und so stark ist, daß der Engel sie nicht mehr schließen kann. Dieser Sturm treibt ihn unaufhaltsam in die Zukunft, der er den Rücken kehrt, während der Trümmerhaufen vor ihm zum Himmel wächst. Das, was wir den Fortschritt nennen, ist dieser Sturm."

Damit hat Benjamin den bürgerlichen Fortschrittsbegriff radikal verworfen. Im Historismus, der unser Geschichtsbild noch heute bestimmt und auch immer wieder in die Wissenschaft sich einschleicht, erscheint die Geschichte des Menschen als triumphaler Weg nach oben: von der Primitivität in die Höh', von der Finsternis ins Licht der Zivilisation. Der Historismus tendiert somit, wie Benjamin richtig erkennt, zu drei Schlußfolgerungen:

1. Er schreibt letztlich Universalgeschichte, denn wenn er die Geschichte als Aufstieg beschreibt, nimmt er sie insgesamt in Besitz.

2. Er begreift die Verlierer der Geschichte nur als Fußnote, als Hindernis auf dem Weg zur Zivilisation, als Sackgasse, kurzum: als überflüssig.

3. maßt er sich an, der Hegelsche absolute Geist habe gesiegt, und die Gegenwart besitze alle Weisheit und Vernunft, die den armen Barbaren der Vergangenheit fehlte.

Der Historismus ist somit tendenziell positivistisch, bejaht stets die herrschenden Verhältnisse, und vermag sich die Umwerfung letzterer gar nicht vorzustellen. Merke wohl: es gibt auch einen sozialistischen Historismus. Er zeigt sich wohl am klarsten und schrecklichsten im Stalinismus, der sich dazu berechtigt fühlte, seine Gegner auszulöschen und aus der Geschichte zu schreiben. Damit wurde in die Tat umgesetzt, was im Historismus ideologisch schon vorgezeichnet ist und sich im Werk stalinistischer Historiker wie E.H. Carr zeigt, die für die Verlierer der Geschichte keine Zeit und kein Verständnis haben.

Marx hat den bürgerlichen Fortschrittsbegriff, der noch Hegels Werk, in dem dialektische Entwicklung eben als Fortschritt verstanden wird, ausmacht, durch den historischen Materialismus ersetzt. In Marx' System gibt es Revolutionen der Produktionsmittel, aus denen sich gesellschaftliche und weltanschauliche Umwälzungen ableiten. Nur werden diese Revolutionen eben nicht als Fortschritt verstanden. Durch sie wird stets nur eine Gewaltherrschaft durch die andere ersetzt, werden die Produktions- und Vernichtungsmittel immer mächtiger, wächst die Gesellschaft an, vervielfacht sich das menschliche Elend. Eben das liegt Benjamins Geschichtsbegriff zugrunde: die Geschichte als immer weiter anwachsender Trümmerhaufen.

Weil der Marxismus sich für den Menschen als "ein erniedrigtes, ein geknechtetes, ein verlassenes, ein verächtliches Wesen" interessiert und ihn zu befreien sucht, kann er mit dem Historismus nichts anfangen. Das aber hat die Linke nicht davon abhalten, dem positivistischen Fortschrittsbegriff in die Falle zu gehen. Der evolutionäre Sozialismus eines Bernstein zum Beispiel nimmt schlicht an, daß dank dem Fortschritt schon alles in Ordnung kommen werde. Er übersieht dabei, daß Marx' Dialektik, im Gegensatz zu der Hegels, offen ist: der Gang der Geschichte ist eben nicht ein unvermeidliches Fortschreiten auf vorgezeichnetem Wege, sondern wird von Menschen geformt. "Sozialismus oder Barbarei" ist eine echte Wahl. Wohin der evolutionäre Sozialismus führt, sieht man, als sich im ersten Weltkrieg die Sozialdemokratie mit den reaktionären Kräften des Kaiserreiches zum Burgfrieden verband.

Walter Benjamins Zerstörung des positivistischen Fortschrittsbegriff ist ein hervorragendes Beispiel negativer Dialektik: das bejahende Selbstverständnis unserer Gesellschaft wird auf den Kopf gestellt. Aber aus dieser Zerstörung wächst erst das Potential für ein Umdenken, für die Vorstellung einer Zukunft, die der Gegenwart dialektisch gegenübersteht. Der Historiker ist Trümmersammler.

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