Thilo Sarrazin hat sein Ziel erreicht: er ist zum Impulsgeber für die Politik geworden. Groß war das Geschrei zunächst: krudester Biologismus! Pseudowissenschaftlicher Murks! Fast sofort aber hieß es, der Bundesbanker spreche echte Probleme an: zu schrill sei nur seine Sprache. Angela Merkel verlangte öffentlich eine Debatte ohne Tabus, die sie als Kanzlerin eigentlich führen und nicht bloß fordern könnte. Analysierte der „Spiegel“ letzte Woche noch den „Provokateur“ Sarrazin, fragte das Magazin in der nächsten Ausgabe, „warum Deutschland an der Integration scheiterte“.
Der Konsens, Sarrazins Kritik sei überspitzt, enthalte aber ein Körnchen Wahrheit, ist keineswegs neutral: in ihm spiegelt sich ein Weltbild, das der Wirklichkeit kraß widerspricht. Die Kanzlerin gab den Ton bereits vor. Integration dürfe keine Einbahnstraße sein, sagte Merkel. Die deutsche Gesellschaft habe sich um die Integration ihrer ausländischen Mitbürger bemüht. Die aber sollten nun auch das Ihre tun.
Dieses Schema erinnert verblüffend an das Muster, nachdem eine andere Bevölkerungsgruppe besprochen wird: die Ärmsten. Auch diese gelten der Regierung und der ihr freundlich gesinnten Presse als starrsinnig und kulturell degoutant. In ihrer „spätrömischen Dekadenz“ (so der Außenminister) schlügen sie, trotzigen Kindern gleich, die großzügigen Hilfen des Staates aus, um mit ihren stetig wachsenden Kinderscharen die Sozialsysteme (also Sie, liebe Mitbürgerinnen und Mitbürger!) zu belasten. Sie lebten parasitär in ihren selbstgewählten Ghettos auf Kosten der Allgemeinheit in Saus und Braus. Einwanderer wie Arbeitslose seien undankbar und schotteten sich aus moralischer Verwerflichkeit und zweifelhaften religiösen Vorstellungen von einer Gesellschaft ab, die sie gerne mit offenen Armen aufnehmen würde.
Die Wissenschaft nennt das „negative Integration“: mehrere Gruppen, die eigentlich ganz verschiedene Ziele verfolgen, werden geeint, indem man auf Minderheiten hetzt. Dazu gehört: die gewünschte Gemeinschaft wird als großherzig und hilfsbereit, die Minderheit als feindlich und fremd hingestellt. Was dem Bismarckschen Reich Polen, Sozialisten und Katholiken, das waren der Bundesrepublik nach dem Zusammenbruch des zuvor die Allgemeinheit bedrohenden „Weltkommunismus“ zunächst Asylanten, dann, als deren Zahl ob abschreckender Maßnahmen immer weiter sank, die Nachkommen der Gastarbeiter.
Die bürgerliche Gesellschaft bröckelt. Die sozialen Unterschiede werden immer schärfer. Während wenige an der Spitze sich über staatliche Wirtschaftsspritzen freuen dürfen, schwindet die Mittelschicht, und immer mehr Menschen müssen mit immer weniger auskommen – übrigens nicht nur bei schlechter Wirtschaftslage: schon vor der Finanzkrise stagnierte das Realeinkommen der meisten. Die Schaffung von Randgruppen ist dabei eine bewährte Herrschaftstaktik. Der steigende Druck, die Angst, die Wut äußert sich überall. Da könnten sich die spätrömisch Dekadenten gegen ihre Herren wenden. Lieber schiebt man denen die Schuld zu, die noch weniger haben.
Natürlich ist es Unsinn, den Armen und Arbeitslosen ihre Lage selbst zuzuschreiben. Niemand wird ernsthaft behaupten, Millionen weltweit hätten entnervt gekündigt, als die Finanzkrise begann, nach dem Motto: nun habe ich aber keine Lust mehr. Darauf läuft dieser Randgruppendiskurs aber hinaus. Er grenzt die Verlierer dieser Gesellschaft aus, schiebt ihnen die Ausgrenzung in die Schuhe und verlacht sie dazu noch. Wer so denkt, hilft den Westerwelles und Ackermanns.
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