Auch die Reise des Papstes nach England, bis vor kurzem meine Wahlheimat, war umstritten. Simon Hewitt legte damals dar, warum ihm die Gegnerschaft suspekt war, allerdings fußt sein Argument auf historischem Materialismus und damit einem britischen Kontext, der für Deutschland nicht gilt. Der deutsche Antikatholizismus täte gut daran, die eigene Geschichte zu verstehen.
Deutschland ist in Europa fast einzigartig in seiner Teilung in zwei Konfessionen ähnlicher Größe.* In den Religionskriegen des sechzehnten und siebzehnten Jahrhunderts gelang keiner Seite der Sieg, und durch die Zermürbung der Kaisermacht gab es in Deutschland bald gar keine Instanz über den einzelnen Fürstenhäusern, die nach dem Prinzip cuius regio, eius religio ihre Untertanen dem eigenen Glauben unterwarfen. (Vielleicht aus diesem Grunde wanderten meine evangelischen Vorfahren im frühen achtzehnten Jahrhundert aus Oberösterreich nach Pommern aus.) Nachdem Preußen Österreich aus Deutschland drängte, verblieben im Kaiserreich sechzehn Millionen Katholiken - vor allem im Süden und Westen, im Ermland, in Oberschlesien und den polnischen Grenzgebieten - zu achtundzwanzig Millionen Protestanten.
Den Hohenzollern waren diese Katholiken nicht lieb, sie wurden als "inneres Frankreich" des Sympathisantentums mit äußeren Mächten verdächtigt, als Reichsfeinde gebrandmarkt und im Kulturkampf von Bismarck bekriegt: kurzum, die Kirche diente den Herrschern des Junkerstaates als Scheinfeind, um die eigene Macht zu sichern. Katholiken wehrten sich politisch durch die Zentrumspartei, viele traten auch der SPD bei. Zugleich formierte sich unter den Deutschnationalen Österreich-Ungarns die Los-von-Rom-Bewegung, die Antikatholizismus mit Antisemitismus verband. Protofaschisten wie Georg von Schönerer traten zu dieser Zeit zum Protestantismus über.
War der Nationalsozialismus offiziell konfessionsneutral, so stand er doch der katholischen Kirche von Anfang an als außerdeutscher Macht ablehnend gegenüber. Im katholischen Deutschland gelang den Nationalsozialisten niemals der Durchbruch, der das ländliche, evangelische Norddeutschland zu ihrer Hochburg zumindest nach Stimmenanteilen gemacht hatte. Alfred Rosenberg erklärte im Mythus des zwanzigsten Jahrhunderts, das Papsttum sei aus den haruspices, den Wahrsagern der Etrusker, entstanden und somit asiatischen, "nichtarischen" Ursprungs. Erst nach 1945 gewann der Katholizismus im Westteil Deutschlands Gleichberechtigung und konnte auch zum Kulturleben der Bundesrepublik oft entscheidend beitragen.
Natürlich betrachten die meisten heutigen Papstgegner diese unschöne Geschichte des deutschen Antikatholizismus mit Abscheu, viele werden auch gar nichts davon wissen. Jedenfalls ist die Ablehnung der katholischen Kirche kein unbeflecktes Gelände: ein Nein zum Papstbesuch muß mit einem Ja zum Existenzrecht des Katholizismus in Deutschland einhergehen. Auch stammen die wenigsten Papstgegner aus dem Umfeld des klassischen Protestantismus, sondern sind allgemein säkular eingestellt. Dennoch muß jede Papstkritik zum historischen Antikatholizismus in Deutschland Stellung beziehen und Katholiken klarmachen, daß ihrem Glauben und Brauchtum nicht allgemein das Daseinsrecht abgesprochen wird.
Eine Kritik der Papstkritik bedeutet nun keineswegs das unbedingte Ja zu allen Lehren des Vatikans. Die Gegner haben ja recht damit, daß zum Beispiel die Sexual- und Geschlechterpolitik Roms, auch der Umgang mit dem Mißbrauchsskandal sehr unzureichend war. Ich als Protestant melde natürlich weitreichende theologische Differenzen mit dem Papst an, von der Erlösung zur Ekklesiologie, dem Abendmahl und dem Bilderstreit. Das heißt aber nicht, daß man den Papst nicht einladen und ihm höflich zuhören könnte. Und wer den Papst ablehnt, der muß sich die Frage nach der eigenen Prinzipienfestigkeit gefallen lassen: würden dieselben Menschen ebenso energisch gegen Präsident Obama protestieren, der immerhin Tausende Menschen in Pakistan durch Drohnenangriffe hat töten lassen - was man vom Papst ja nicht behaupten kann?
Die säkulare Religionskritik wendet sich unterschiedslos gegen Protestanten und Katholiken, auch gegen Muslime und religiöse Juden. Sie muß sich dabei kritisch zu sich selbst verhalten und sich eingestehen, daß ihre Position oft zu imperialistischen Zwecken mißbraucht wird, wie es einst mit dem Christentum geschah. Westliche Kreuzritter wie Christopher Hitchens und Henryk Broder rechtfertigen mit der Religionskritik den Überfall auf muslimische Länder ebenso wie die fortdauernde Besatzung und Kolonisierung Palästinas. Sie muß also von ihren falschen Freunden genauso Abstand nehmen wie von ihren vermeintlichen oder wahren Gegnern. Außerdem muß sie ihr eigenes Vokabular überprüfen und sich klarmachen, daß es ihr nicht hilft, Christen für verblendet oder dumm zu erklären. Wer einen hochintelligenten Theologen wie Joseph Ratzinger als zurückgeblieben abstempelt, hat ein Glaubwürdigkeitsproblem.
Die weitestverbreiteten Strömungen des Säkularismus entstehen nicht aus dem Marxismus, sondern aus einem falsch verstandenen liberalen Aufklärungsdenken, und sollten von der Linken darum nicht unkritisch angewandt werden. Marx' tatsächliche Religionskritik ist untrennbar mit der Gesellschaftskritik verbunden, wie in Zur Kritik der Hegelschen Rechtsphilosophie: Einleitung zusammengefaßt:
Das Fundament der irreligiösen Kritik ist: Der Mensch macht die Religion, die Religion macht nicht den Menschen. Und zwar ist die Religion das Selbstbewußtsein und das Selbstgefühl des Menschen, der sich selbst entweder noch nicht erworben oder schon wieder verloren hat. Aber der Mensch, das ist kein abstraktes, außer der Welt hockendes Wesen. Der Mensch, das ist die Welt des Menschen, Staat, Sozietät. Dieser Staat, diese Sozietät produzieren die Religion, ein verkehrtes Weltbewußtsein, weil sie eine verkehrte Welt sind. Die Religion ist die allgemeine Theorie dieser Welt, ihr enzyklopädisches Kompendium, ihre Logik in populärer Form, ihr spiritualistischer Point-d'honneur, ihr Enthusiasmus, ihre moralische Sanktion, ihre feierliche Ergänzung, ihr allgemeiner Trost- und Rechtfertigungsgrund. Sie ist die phantastische Verwirklichung des menschlichen Wesens, weil das menschliche Wesen keine wahre Wirklichkeit besitzt. Der Kampf gegen die Religion ist also mittelbar der Kampf gegen jene Welt, deren geistiges Aroma die Religion ist.Zwar halte ich im Gegensatz zu Marx "die Religion", die Marx unzulässig als allgemeines Phänomen zusammenfaßt, nicht für eine Illusion. Dem Hauptargument der Marxschen Religionskritik aber kann ich zustimmen. Wer das Ende der Religion proklamiert, ohne zugleich für das Ende aller Zustände, die den Menschen auf ein betteres Jenseits hoffen läßt, zu kämpfen, der ist nicht nur kraftlos, sondern Apologist des Jammertals. Im Gegensatz zum liberalen Atheismus leitet marxistische Kritik nicht die Geschichte aus dem Aberglauben, sondern den Aberglauben aus der Geschichte ab; sie sucht die gegenwärtige Gesellschaft aufzuheben, statt sinnlos zu verlangen, daß der Mensch sie illusionslos zu ertragen habe.
Das religiöse Elend ist in einem der Ausdruck des wirklichen Elendes und in einem die Protestation gegen das wirkliche Elend. Die Religion ist der Seufzer der bedrängten Kreatur, das Gemüt einer herzlosen Welt, wie sie der Geist geistloser Zustände ist. Sie ist das Opium des Volkes.
Die Aufhebung der Religion als des illusorischen Glücks des Volkes ist die Forderung seines wirklichen Glücks. Die Forderung, die Illusionen über einen Zustand aufzugeben, ist die Forderung, einen Zustand aufzugeben, der der Illusionen bedarf. Die Kritik der Religion ist also im Keim die Kritik des Jammertales, dessen Heiligenschein die Religion ist.
Aber die linke Papstkritik ist nicht nur theoretisch, sondern auch strategisch falsch. Die Linke bemüht sich seit Jahren, ihr West-Ost-Gefälle zu überwinden: im Osten Volkspartei, im Westen oft kleinste der parlamentarischen Parteien, muß sie unter den Arbeitern Westdeutschlands Fuß fassen. Nun sind aber die Industrieregionen Westdeutschlands, wie das Ruhrgebiet und Rheinland, unter den am stärksten katholischen Gegenden. Wer dort den demokratischen Sozialismus mit Gott-ist-tot-Parolen anreichert, stellt sich selbst ein Bein. Linke Politik sollte sich den Arbeitern vorurteilsfrei nähern und von ihnen lernen, nicht ihre Anschauungen von vornherein für vorsintflutlich erklären.** Sie muß den Schulterschluß mit wirklichen Menschen wagen, nicht mit solchen, wie sie sie gerne hätte. Das erkennt die Partei ja seltsamerweise auch, wenn es um Palästina oder den Irak geht, aber in Dortmund soll es aus irgendeinem Grunde (der ja, man vergesse es nicht, auch anrüchig sein kann) anders sein.
Der Schwund des Christentums in Deutschland hat übrigens eine merkwürdige Nebenwirkung. Die Absage, die der Papst dem weiteren Zusammenwachsen der Kirchen erteilte, wertet die Presse als "Enttäuschung" für Protestanten, deren Hoffnungen der Papst zunichte mache. Er fühle sich Orthodoxen näher als Protestanten, sagte der Papst und brachte damit, so möchte man meinen, evangelische Kirchenhäupter zum Weinen. Das klingt, als seien Ost- und Lutherkirchen verlorene Söhne, die um das Wohlwollen eines unzufriedenen Vaters wettbuhlen und am liebsten so bald wie möglich wieder bei ihm einziehen wollen. Ich darf vermelden, daß meine Enttäuschung sich in Grenzen hält: die protestantische Tradition, sei sie lutherisch oder calvinistisch, reicht längst aus, um auch ohne den Papstsegen fortzubestehen. Das überstehen wir schon.
* Jugoslawien und Irland ähneln Deutschland in dieser Hinsicht.
** Natürlich hat diese Einstellung Grenzen. Frauen- und Fremdenfeindlichkeit sind z.B. stets abzulehnen, da sie die Arbeiter teilen und schwächen.
UPDATE: An English paraphrase of this post can be found here.
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