Friday, 9 September 2011

Gewalt und Kinderzorn

Das Kaiserreich ist der Vergessenheit anheimgefallen. Das wäre nicht schlimm, handelt es sich doch um ein insgesamt widerwärtiges Kapitel unserer Geschichte. Zu bedauern ist nur, daß die Revolution, die die Junkerherrschaft stürzte, dabei mitvergessen worden ist. Denn in ihr lag die Chance, den verhängnisvollen Lauf der deutschen Geschichte abzubiegen. Michael Hanekes Film Das weiße Band: Eine deutsche Kindergeschichte argumentiert eindrucksvoll, daß die Wurzeln des Nationalsozialismus eben im Kaiserreich liegen.

Im Dörfchen Eichwald, irgendwo im deutschen Nordosten im letzten Friedensjahr 1913-1914: der Arzt stürzt mit seinem Pferd über ein verstecktes Seil. Der Sohn des Barons wird gefesselt und verprügelt im Wald aufgefunden. Ein Täter kann nicht festgestellt werden. Während die Erwachsenen nach einer Erklärung für die anscheinend sinnlose Gewalt suchen, verstreicht das letzte sieche Vorkriegsjahr.

Das Schwarz-Weiß-Schema des Films spiegelt die Kälte des Stoffs wieder. Die erzählerische Distanz, die Haneke streng aufrechterhält, erlaubt keine Identifizierung mit einzelnen. Hier wird ein Dorf als Mikrokosmus Deutschlands beleuchtet, als Wiege des deutschen Faschismus. Den versteht Haneke als Rache einer unterdrückten und brutalisierten Generation, deren Gewalt sich gegen alles Fremde entlud. Sie mußte den nach außen getragenen Vatermord doch als Säuberung verstehen und also gerade in ihrer Überwindung die elterliche Strenge verwirklichen.

Der Untertitel "Eine deutsche Kindergeschichte" trifft es genau. Der ernste Pastor (Burghart Klaußner) bindet seinen Kindern zur Erinnerung an die geforderte Reinheit das weiße Armband des Titels um. Die Jugend des Dorfes ist stumm und fügsam, man soll sie sehen und nicht hören. Die Kinder haben nicht die Kraft, sich offen zu wehren. Aber ihre haßerfüllten Blicke, ihr eisernes Zusammenhalten und Sich-Verschwören gegen die Welt der Erwachsenen spricht Bände. Der junge Lehrer (Christian Friedel) ahnt, was die anderen Erwachsenen nicht sehen können und wollen.

Der Gewalt der Eltern gegen die Kinder steht der Zwang der Herrenschicht gegen das gemeine Volk gegenüber. Es ist gerade die gönnerhafte Leutseligkeit des Barons (Ulrich Tukur), die ihn widerwärtig macht, und das nicht nur seinen Untergebenen, sondern auch seiner Frau (Ursina Lardi). Das weiße Band zeichnet das Bild einer Gesellschaft, deren unerträgliche innere Gewalt sich nicht entladen kann. Sie mußte exportiert werden; wäre nicht, wie es die plump-selbstherrliche Kriegspropaganda wollte, "jeder Stoß ein Franzos'" gewesen, so hätten sich wohl die Gutsherren vor den Bajonetten wiedergefunden - was dann ja auch geschah.

Dabei muß man dem Regisseur, was mir sonst nicht behagt, zu seinem eigenen Film widersprechen. Haneke will Das weiße Band als Film über Ideologie an sich, nicht nur über den deutschen Faschismus verstanden wissen. Die Ideologie "an sich" aber ist Fiktion, der Film dagegen zeichnet eben eine konkrete historische Situation statt eines ewigen Gleichnis. Daß der Nationalsozialismus in der evangelischen Provinz Norddeutschlands einen Nährboden fand, ist ebensowenig zu bestreiten wie sein Ursprung im Kleinbürgertum, von dem er auf andere, gemeinhin unsichere und bindungsarme Klassen – die Arbeitslosen, das Großbürgertum, die in Not geratenen konservativen Eliten des Kaiserreichs – übersprang.

Als Wermutstropfen ist anzuführen, daß der Film nicht immer ganz authentisch wirkt. Hie und da zerbricht die Illusion der spätwilhelminischen Gesellschaft. So spricht bis auf den bayerischen Gutsverwalter jedermann geschliffen hochdeutsch, das doch damals nur die Sprache der Herrschaft und der Gebildeten war – man erinnere sich an den pater familias in Thomas Manns Buddenbrooks, der plattdeutsch spricht, um im Revolutionsjahr 1848 das meuternde Volk zu besänftigen. Nur der Vater des Kindermädchens Eva hat einen ausgesprochen norddeutschen Zungenschlag; insgesamt ist die Sprechweise der Charaktere allzu modern. Die Baronin, zugegebenermaßen eine Dame von Welt, spricht gar von „Fairneß“.

Daß die Kritik zu solcher Haarspalterei greifen muß, um Das weiße Band zu kritisieren, ist ein Kompliment an den Regisseur. Der Film ist weniger spannend als beklemmend, aber gerade die kritische Distanz erlaubt den Blick auf das Grauen. Wir Nachgeborenen wissen, was sich da zusammenbraut. Nur treibt einen die Ahnung um, daß wir weniger gelernt haben, als gut für uns wäre.

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